Tilsit und die Tilsiter
Vor 50 Jahren im November
Es war einmal: Die Tilsiter Straße
6. November 1969: Historische Umbenennung der Tilsiter Straße in Richard-Sorge-Straße anlässlich des 25. Jahrestages der Hinrichtung von Dr. Richard Sorge. Da die Tilsiter Lichtspiele zu diesem Zeitpunkt bereits geschlossen waren, geriet der Name Tilsiter in Vergessenheit, das Kino wurde nicht in Sorge-Lichtspiele umbenannt. Die Quelle dieses illustren - und augenscheinlich tendenziös geprägten - Ausschnittes ist uns leider unbekannt, es handelt sich aber um eine, in der "Antifaschisten" vorsichtshalber in Anführungszeichen geschrieben und ein ideologischer Kampf zwischen "Held der Sowjetunion" und "Verrat an Deutschland" ausgefochten wurde und kontextuelle Begriffe wie "Heimatgebiete", "Vertreibung" und "Erinnerung" verwendet wurden, zu denen sich allein auf Wikipedia Lesestoff für viele Stunden bietet. Ein weites Feld, ein riesiger historischer Möglichkeitsraum...
Kleines Kino, große Geschichte
Die Tilsiter Lichtspiele waren eines der ersten Kinos in Berlin und feierten 2008 ihr 100jähriges Bestehen. Das Programmkino mit Kneipe in der Richard-Sorge-Straße in Friedrichshain - genau in der Mitte zwischen dem ehemaligen Kino Kosmos in der Karl-Marx-Alle und dem UCI Kinowelt in der Landsberger Allee gelegen, also wenn das keine Extra-Lage ist - ist damit das zweitälteste in der Stadt.
Zu verdanken hat unser Kino seinen Namen der an Tilse und Memel gelegenen ostpreußischen Stadt Tilsit, nach der 1883 eine von vielen Berliner Straßen erstmalig einen Namen anstelle einer Nummer erhielt - die Tilsiter Straße im späteren Stadtteil Friedrichshain. Noch später wurde es dann üblich, Straßen regelmäßig umzubenennen, so erhielt 1969 die Tilsiter ihren heutigen Namen Richard-Sorge-Straße.
Historisch ergiebig ist Tilsit vor allem durch den Frieden von Tilsit, einem bedeutenden Ereignis von 1807, welches das Ende des absolutistischen Preußens markierte. Osteuropa wurde in eine französische und eine russische Interessensspäre geteilt und Preußen nach den großen Niederlagen gegen Napoleon in seinem Einfluß zurückgestuft.
Am 13. Februar 1849 wurde ein Herr Friedrich Wilhelm Voigt in Tilsit geboren, der knapp ein halbes Jahrhundert später in Berlin Furore machte als Hauptmann von Köpenick. Desweiteren gehören der Dichter Johannes Bobrowski und der Schauspieler Armin Mueller-Stahl zu den bekanntesten Söhnen der Stadt.
Hermann Sudermann siedelte seine Novelle Die Reise nach Tilsit eben dort an - im Sumpfland der Umgebung von Tilsit (tilse/tilszus = sumpfig).
1946 wurde ein Drittel Ostpreußens von den Sowjets zum Kaliningradskaja Oblast erklärt und in die UdSSR eingegliedert, Tilsit wurde in Sowjetsk umbenannt und heißt auch heute noch so.
Das Kino Tilsiter Lichtspiele
Gelegen im Erdgeschoss eines Altberliner Wohnhauses, hat unser kleines Kino seit 1908 eine wechselhafte Geschichte erlebt. Ursprünglich in privatem Familienbesitz befindlich, musste der letzte Betreiber zu DDR-Zeiten 1961 seine letzte Vorstellung geben, als im gleichen Jahr der antifaschistische Schutzwall - die Berliner Mauer - errichtet wurde.
So verblichen die Jahre, still und heimlich, und die frühen Greise alterten schnell, bis sie eines Tages vor die Mikrofone und Kameras der Welt tatterten und solange Unsinn stotterten, bis Ton und Bild langsam ausgeblendet wurden.
Als dann am 18. Februar 1994 eine Gruppe junger Künstler, der in den Wendejahren das Kino als konspirative Adresse diente - Spielplatz, Versteck und Ort für Verschwörungen zugleich - nach 1.201 Tagen berauschten Schaffens im ewigen Halbdunkel gegen morgens um halb fünf die Siegel brach, immer langsamer auf den Bürgersteig trat und mit weichen Gliedmaßen in das späte Laternenlicht blickte und darüber erschauerte, dass das goldene Zeitalter plötzlich zu Ende war, musste sie sich darüber verwundern, dass sie die ganze Nachwendezeit in einem alten Kino eingeschlossen war, das auch noch den Namen einer unter ihresgleichen nicht so beliebten Käsesorte trug.
Geblendet von der Realität des Draußenseins beschlossen die Versehrten, sich sofort wieder zurückzuziehen und noch am selben Abend ihr Wohnschlafatelier als Kinokneipe öffentlich zu machen. Ein paar Anrufe, ein bisschen Farbe und zwei Kurzschlüsse später trafen die ersten Gäste ein und bezahlten den Künstlern fortan das Bier, dass sie ohnehin selbst verzehrt hätten. Das wurde als weitaus realer als der kürzlich verstorbene Sozialismus empfunden und so produzierten sie frohgemut Kunst und Käse am Stück und förderten so manche Wahrheit zu Tage, wie die über Van Gogh oder die Stasi.
Auf diese Weise war der Idee des 18. Februars ein bahnbrechender Erfolg beschieden, denn die Tilsiter Lichtspiele wurden ein Festpunkt der jungen Wende-Intelligenzija Ostberlins, die den stasi-geförderten und alt gewordenen Prenzlauer Berger Sumpf ausgetrocknet hatte. Und so vergingen die Jahre und da sie nicht gestorben sind, gibt es sie noch heute.
Der Fall Dr. Sorge
1969 wurde die Tilsiter Straße in Richard-Sorge-Straße umbenannt. Der Kundschafter (ostdeutsch für guter Spion) Dr. Sorge belieferte über seine Arbeit in der deutschen Botschaft in Japan die Sowjetunion mit kriegswichtigen Informationen.
Unter dem Decknamen Ramsay unterrichtete er Stalin vom genauen Termin des Unternehmen Barbarossa, des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion - was von diesem jedoch tragischerweise ignoriert wurde. Auch Informationen zum Angriff auf Pearl Harbor wurden von Sorge an den sowjetischen Militärgeheimdienst GRU weitergeleitet. Die Schlacht um Moskau, der erste große Wendepunkt des 2. Weltkrieges, verdankt Richard Sorges Informationen den für die Rote Armee sieg-, wenn auch verlustreichen Ausgang.
Am 7. November 1944, dem 3. Jahrestag des Überfalls auf Pearl Harbor, wurde Sorge in Tokio hingerichtet. An ihn erinnerte bis 1990 eine Gedenktafel in der Richard-Sorge-Straße, Ecke Weidenweg, die jedoch von Unbekannten geklaut wurde.
Das Wirken Richard Sorges wurde mehrmals verfilmt, u.a. 1954 von Veit Harlan (Jud Süß, Opfergang, Kolberg) in dem Film Verrat an Deutschland - Der Fall Dr. Sorge. 2003 wurde der Fall ausführlicher behandelt in der deutsch-japanischen TV-Produktion Richard Sorge - Spion aus Leidenschaft, in der auch Ulrich Mühe mitspielte (aber nicht als Dr. Sorge).
Der Tilsiter Käse
Der Name Tilsiter findet sich auch in vielen Käseregalen, denn es gibt eine gleichnamige würzige Käsesorte, ein Kuhmilchschnittkäse mit Rotschmiererinde.
Der Tilsiter Käse ist ethnologisch von ganz besonderer Bedeutung, denn seine Entstehung und Verbreitung durch Europa lässt sich heute gut nachvollziehen. Im 18. Jahrhundert brachten holländische Einwanderer Käserezepte in die Memelniederung, die als Vorläufer des Tilsiter gelten. Um 1840 herum wurde von einer Frau Westphal eine Molkerei bei Tilsit gegründet, in der dann der Name Tilsiter zum Käse fand.
Nach dem Deutsch-Französischen Krieg und der Reichsgründung 1870/71 fand ein wirtschaftlicher Aufschwung in der gesamten Region statt und damit eine Überproduktion an Milch. Damit boomte die Käsebranche, die ihren Bedarf an Arbeitskräften vor allem aus der Schweiz deckte, die das technische Know-how der Schweizer Milchwirtschaft mitbrachten.
Als Rückwanderer kam 1893 der Tilsiter Käse in die Schweiz, und zwar in einen Holzhof bei Weinfelden. Dort wurde am 01. August 2007 der Ort Tilsit neu gegründet, um dem Tilsiter Käse wieder eine geografische Herkunft zu geben.
Josef Goebbels Lieblingsregisseur Veit Harlan drehte 1938 ein Melodram über den Tilsiter Käse, in dem Kristina Söderbaum eine holländisch-deutsche Molkerin spielt, die von einem polnischen Bauern gezwungen wird, das Originalrezept an die Slawen zu verraten, worauf sie sich in Schande in einen Milchbottich wirft und ertrinkt. Der Pole verschachert das Rezept weiter nach Osten, wird aber von der Gerechtigkeit eingeholt, als ihn Schweizer Einwanderer nach einem alten Ritual mit Armbrüsten beschießen und in den Kopf statt in den Käse treffen. Der Film wurde im Dritten Reich zunächst verboten, aufgrund unterstellter polenfreundlicher Tendenzen, erhielt aber zwei Jahre später die Freigabe nach zahlreichen Änderungen.
Und im Osten: Tollenser
Die Tollense, ein Fluß im Norden Ostdeutschlands, entspringt dem Tollensesee und mündet in die Peene, die wiederum zur Unterstützung der Oder als Peenestrom bei, wen wunderts, Peenemünde in die Ostsee ausfließt.
Die Tollenser waren ein slawischer Volksstamm, der im heutigen Gebiet der Tollense und des Tollensesees siedelte, und im 10. bis 12. Jahrhundert den Luitizen angehörte, einem Bund nordwestslawischer Stämme, die sich der Christianisierung widersetzten. Sie hatten keine zentrale Führung, aber eine Volksversammlung, die sich besonders in militärischen Belangen beriet.
1961 wurde vom DDR-Landwirtschaftsministerium der Tilsiter Käse nach der Tollense benannt. Damit musste eine der bekanntesten europäischen Käsesorten, die das Pech hatte, einen Namen zu tragen, der durch die Folgeerscheinungen des 2. Weltkrieges zumindest im Osten des geteilten Deutschlands in Verruf geraten war - wie auch 8 Jahre später die Tilsiter Straße - den politischen Gegebenheiten dieser Zeit Rechnung tragen. Immerhin: die Tollenser Sorte wurde 1995 nach EG-Verordnung in die deutsche Käseverordnung aufgenommen, hat also die Ereignisse nach 1989 und den wirtschaftlichen Beutezug der westlichen in den östlichen Provinzen des nunmehr ungeteilten Landes gut überstanden.
Die Reise nach Tilsit
"Wilwischken liegt am Haff. Ganz dicht am Haff liegt Wilwischken. Und wenn man von dem großen Wasser her in den Parwefluß einbiegen will, muß man so nah an den Häusern vorbei, daß man Lust bekommt, ihnen vom Kahn aus mit ein paar Zwiebeln - es können auch Gelbrüben sein - die Fenster einzuschmeißen."
So beginnt Hermann Sudermanns Novelle Die Reise nach Tilsit. Der wohlhabende Fischer Endrik Settegast hat Frau und Kind und verliebt sich heftig in die Polin Madlyn. Ein erstes Mal wehrt er seiner Leidenschaft, doch als er Madlyn zum zweiten Mal begegnet, ist er bereit, seine Frau Elske zu töten. Und so nimmt er sie mit auf eine Bootsfahrt nach Tilsit...
1927 diente die Erzählung als Vorlage für den ersten amerikanischen Film von Friedrich Wilhelm von Murnau, unter dem Titel Sunrise - Lied von zwei Menschen, der als ausgereifteste Produktion Murnaus gilt und 1929 in der allerersten Oscarverleihung überhaupt gleich drei Oscars erhielt.
Die zweite Verfilmung stammt von Veit Harlan, der 1939 bei den Dreharbeiten zum Film Die Reise nach Tilsit seine spätere Frau Kristina Söderbaum kennenlernte und ab da immer mit einer Hauptrolle besetzte.
Die Lichtspiele 1938
Das historische Lichtspielkino in einer Aufnahme von 1938.
Das Motiv ist als Postkarte und Plakat im Kino erhältlich.
Der Tilsomat 2000
Eines der großen technischen Wunderwerke der 60er Jahre war der vollmanuelle Personal-Versorgungsapparat (PVA), der heute im Kneipenmuseum zu bestaunen und zu benutzen ist.
Die Tilsiter Lichtbänke
Im Sommer setzen wir euch an die frische Luft und laden ein zum Draußensitzen. Vor und nach dem Film könnt ihr unser Hausbier und auch alles andere in der Richard-Sorge-Straße im Freien genießen.
165 Jahre Tilsiter Käse
Russisches Ausstellungsplakat von 2010
Tollenser Schmelzkäse
Kräuter 45%
Die Reise nach Tilsit
Deutschland 1939
Regie und Buch: Veit Harlan
Darsteller: Kristina Söderbaum, Frits van Dongen, Anna Dammann
Unsere Kinogeschichte
Was bisher geschah...
1410 - 1848
1410 Der Deutsche Orden errichtet am Zusammenfluss von Tilse und Memel die Ordensburg Tilsit
1411 Die Burg Tilsit wird geplündert und niedergebrannt
1511 Albrecht von Brandenburg-Ansbach wird (letzter) Hochmeister des Deutschen Ordens
1537 Die Burg Tilsit wird von Herzog Albrecht neu aufgebaut
1552 Der prosperierende Marktflecken Tilsit erhält von Herzog Albrecht das Stadtrecht
1807 Der Friede von Tilsit besiegelt das Ende des absolutistischen Preußens
1848 Märzrevolution im Deutschen Bund
1849 - 1945
1849 Die Restauration triumphiert (siehe auch 1918)
1849 Friedrich Wilhelm Voigt wird in Tilsit geboren
1883 In Berlin wird die 41. Straße in die Tilsiter Straße umbenannt
1906 Friedrich Wilhelm Voigt zieht als Hauptmann in das Rathaus von Cöpenick ein
1908 In der Tilsiter Straße wird das Kino Tilsiter Lichtspiele gegründet
1917 Johannes Bobrowski wird in Tilsit geboren
1917 Hermann Sudermann schreibt "Die Reise nach Tilsit"
1918 Kaiser Wilhelm II. eilt zum Holzhacken nach Holland (siehe auch 1925)
1920 In Berlin entsteht der Bezirk Friedrichshain
1925 Adolf Hitler veröffentlicht "Mein Kampf" (siehe auch 1945)
1930 Armin Mueller-Stahl wird in Tilsit geboren
1939 Veit Harlan verfilmt "Die Reise nach Tilsit"
1944 Kundschafter Dr. Richard Sorge wird in Tokio hingerichtet
1945 Die Russen kommen
Никола́й Эра́стович Берза́рин
1946 - 1989
1946 Tilsit wird in Sowjetsk umbenannt
1949 Wilhelm Pieck wird erster (und letzter) Präsident der DDR
1953 Nikita Chruschtschow beerbt Josef Stalin
1954 Veit Harlan verfilmt den "Fall Dr. Sorge"
1960 Walter Ulbricht beerbt Wilhelm Pieck
1961 Die Berliner Mauer wird gebaut
1961 In der DDR wird der Tilsiter Käse in Tollenser umbenannt
1961 Johannes Bobrowski veröffentlicht seinen Gedichtband "Sarmatische Zeit"
1961 Die Tilsiter Lichtspiele werden nach Sowjetsk abtransportiert
1962 In der Karl-Marx-Allee wird südlich der Tilsiter Lichtspiele das Kino Kosmos mit 1001 Plätzen eröffnet
1964 Leonid Breschnew entmachtet Chruschtschow
1969 Die Tilsiter Straße wird in Richard-Sorge-Straße umbenannt
1971 Erich Honecker entmachtet Walter Ulbricht
1973 "Die Legende von Paul und Paula" feiert Premiere im Kino Kosmos
1982 Juri Andropow beerbt Leonid Breschnew
1984 Konstantin Tschernenko beerbt Juri Andropow
1985 Michael Gorbatschow beerbt Konstantin Tschernenko
Константин Устинович Черненко
1989 - heute
1989 Die Berliner Mauer wird wieder abgebaut
1991 Boris Jelzin entmachtet Michael Gorbatschow
1994 Die Russen gehen
1994 Die Tilsiter Lichtspiele werden zurückgegeben und neu eröffnet
1996 Die UFA baut das Kino Kosmos zum ersten Multiplex-Kino in Berlin um
1998 In der Landsberger Allee wird nördlich der Tilsiter Lichtspiele das UCI Kinowelt Multiplex-Kino eröffnet
2004 Die UFA meldet Konkurs an
2005 Das Kino Kosmos wird geschlossen
2008 Die Tilsiter Lichtspiele feiern ihren 100. Geburtstag
2009 Die Tilsiter Lichtspiele erhalten zum ersten Mal die Kinoprogrammpreise von BKM und Medienboard Berlin-Brandenburg - in Folge bis heute jedes Jahr
2011 Die Tilsiter Lichtspiele eröffnen das Freiluftkino Pompeji am Ostkreuz
2012 Die Tilsiter Lichtspiele eröffnen das Kino Zukunft am Ostkreuz
2012 Die Tilsiter Lichtspiele gründen die Kino-Troika Friedrichshain
2013 Die Tilsiter Lichtspiele nehmen an der 63. Berlinale im Rahmen der Filmtournee Berlinale goes Kiez teil
2014 Die Tilsiter Lichtspiele feiern den 20. Jahrestag ihrer Wiedereröffnung
2014 Die Tilsiter Lichtspiele nehmen zum ersten Mal am Filmfestival achtung berlin - new berlin film award teil
2015 Die Tilsiter Lichtspiele eröffnen einen zweiten Kinosaal
2018 Die Tilsiter Lichtspiele sind dank der Sonderreihe Berlinae Goes Kiez Teil der 68. Berlinale
2018 Die Tilsiter Lichtspiele feiern ihren 110. Jahrestag